Der Film Back to Fucking Cambridge.
Installation im Volkskunde Museum Wien im Rahmen des Symposiums Kunstrezeption – Strategien für zukünftiges Ausstellen, Juni 2021.
MATHILDA schlägt anhand von Mühls Back to Fucking Cambridge (1987) eine radikale Neubesichtigung seines Werkes vor. Während der Film bisher als Satire auf die Kulturszene der Jahrhundertwende galt, wird er nun als dokumentarisches Material gegengelesen und verliert dadurch seinen künstlerisch-fiktionalen Charakter; für sie ist der Film manifeste Dokumentation: Die Überlebenden sexualisierter Gewalt spielen die Rollen von Missbrauchsopfern einer künstlerischen Avantgarde.
Konzept — Ida Clay, Zarah Gutsch
Video Schnitt — Wolfgang Konrad
Text — Elisabeth Schäfer
Szenenbeschreibung — Jakob Pretterhofer
Produktion — Paul Robert
Dass der Film von
der Legitimation
von Pädosexualität
handelt, ist das
offene Geheimnis.
Back to Fucking Cambridge ist 1987 unter der Regie von Terese Schulmeister und nach dem Drehbuch von Otto Mühl in der Kommune am Friedrichshof entstanden. Damit ist der Film ca. ein Jahr nach dem Bildzyklus „Unfälle im Haushalt“ (Otto Mühl) produziert worden. Aus diesem Aktzyklus zeigte beispielsweise das Wiener Leopold Museum 2010 im Rahmen der Ausstellung „Otto Mühl“ nur ein einziges Bild, da die restlichen Bilder Missbrauchsopfer Mühls zeigen.[↗ 1] Diejenigen also, die ein Jahr nachdem sie im Rahmen dieser Serie unter erdenklich zynischen Umständen portraitiert wurden, bekommen auch im Film Back to Fucking Cambridge Rollen: erneut als Missbrauchsopfer.
Unter den Filmen, die in der Kommune am Friedrichshof entstanden sind, ist Back to Fucking Cambridge derjenige, der — den genannten historischen Umständen zum Trotz — die wohl größte Popularität erzielte. Die Premiere fand 1987 in der Wiener secession statt. Auch im Fernsehen wurde Back to Fucking Cambridge ausgestrahlt: Erstmals durch den Sender FSZ am 31.03.1989 sowie am 13.12.1993 im ORF 2 und weitere zwei Male innerhalb des Sendeformates ORF-Kunststücke (1989 und 1993). Auch heute noch ist Back to Fucking Cambridge in Retrospektiven, im musealen Kontext usw. häufig zu sehen und wird sehr oft als Komödie bzw. Satire behandelt, siehe beispielsweise das Screening des Filmes im Roten Salon der Berliner Volksbühne 2016.[↗ 2]
Die Rezeption sieht in Back to Fucking Cambridge zumeist einen bitterbösen Blick auf die Kunst- und Kultur-Szene der Wiener Jahrhundertwende, ihre Mythen und legendären Ikonen am Werk. Die Auseinandersetzung mit dem Film durch die Gruppe MATHILDA möchte diese Lesart befragen. Die Besetzung der Ikonen des 19. Jahrhunderts — wie beispielsweise Kubin, Schiele, Freud, Weininger, Wittgenstein, Schönberg und andere — durch „KünstlerInnen“ aus dem Umfeld der Kommune und des Wiener Aktionismus, lässt die Frage entstehen, wie der Film mit der Ikonenhaftigkeit von ProtagonistInnen der Kunst- und Kulturwelt umgeht und warum diese angerufen und unterstrichen wird. So werden im Film „KünstlerInnen“ und „Intellektuelle“ der Jahrhundertwende von „KünstlerInnen“ und „Intellektuellen“ besetzt: Otto Mühl als Sigmund Freud, Nam June Paik als Anton von Webern, Maria Lassnig als Anna O. oder Georg Jiri Dokoupil als Egon Schiele, um nur einige zu nennen.
Die ersten Einstellungen des Filmes zeigen eine dem Kaiser zujubelnde Menge in sommerlicher Landschaft. Danach drängen sich tableau-ähnliche Szenen schriller Exzesse aneinander. Besonders die Tonspur zeugt von schreienden (Kinder-) Stimmen. Das Handlungsgerüst des Filmes vermittelt den Eindruck, Schlaglichter in Lebens- und Schaffensphasen der gezeigten Figuren werfen zu können — geradezu panoptisch, als verfüge die Kamera und diejenigen, die sie führen, über panoptische, alles einsehende Perspektiven. Hier wird das zentrale Moment der Kommune aufgegriffen, in der ebenfalls jede Handlung öffentlich einsehbar war und Intimität, Schutz der Privatsphäre zerstört wurden. Darüber hinaus erinnert die panoptische Blicktechnik als „Entlarvungsmethode“ der von Otto Mühl als vermeintlich „therapeutisch“ entwickelten Aktionsanalyse (die keine Therapie war, genauso wenig wie Otto Mühl ein Therapeut war). Die Intensität der Gestaltung dieser panoptischen, alles erblickenden Kamera macht den Film zu einer Folge distanzloser Übergriffe auf Triebgeschehen und Affekte, um „alles“ zu zeigen und zugleich auch etwas Zentrales unter der Oberflächenerzählung einer grotesk anmutenden Komödie unterzubringen: Dass der Film von der Legitimation von Pädosexualität handelt, ist das offene Geheimnis, das wie in Edgar Allan Poes berühmt gewordener Erzählung „Der entwendete Brief“[3 Vgl. Edgar Allan Poe: Der entwendete Brief, in ders.: Die schönsten Erzählungen, Berlin: Aufbau Verlag 2008, S. 170-198.] dort am besten untergebracht wird, wo es niemand sucht, nämlich in der Sichtbarkeit.
[4] Ich verwende hier in Bezug auf Mühl eine Wendung, die einer wichtigen philosophischen Debatte des sogenannten Poststrukturalismus zwischen dem frz. Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem frz. Philosophen Jacques Derrida, von letzterem geprägt wurde. Die Deutung des literarischen Textes von Poe (siehe FN 3) spielt dabei eine zentrale Rolle. Derridas Kritik an Lacans Lesart der Erzählung „Der entwendete Brief“ gipfelt in der Feststellung, dass es eine gefährliche Geste einer spezifischen psychoanalytischen Perspektive sei, sich stets selbst überall zu suchen und folglich auch zu finden. Damit beschneidet sie sich der Möglichkeit, etwas nicht deuten zu können und verfehlt die inhärente Möglichkeit des Verfehlens. Derrida unterstreicht damit die disseminierende, sich aus- und zerstreuende Kraft von Wahrheit, die immer auch im historischen Wandel steht. Wer die Wahrheit glaubt, eindeutig her/stellen zu können, macht sich automatisch zum „Facteur“ der Wahrheit und muss in dieser Rolle auch behaupten, tatsächlich der „Herr“ deren Produktion zu sein. Hier schwingt eine totalitäre, autoritäre Geste mit. Insbesondere letzteres – zusammen mit dem Motiv der Poe’schen Erzählung, in der ein dringlich gesuchter Brief ebenfalls in der Sichtbarkeit, auf einem Kaminsims, äußerst gelungen „versteckt“ werden kann – legt die Parallele zu Mühl an dieser Stelle. Vgl.: Derrida, Jacques: „Der Facteur der Wahrheit“ [1975], in: ders.: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. Berlin: Brinkmann & Bose 1987, S. 183-281.
Otto Mühl macht sich zum „Facteur einer Wahrheit“[4], die er gar nicht zu verschleiern braucht, weil sie in der Sichtbarkeit Legitimation bekommt. Die Besetzung bekannter Figuren aus Kunst- und Kultur der Jahrhundertwende durch ebenfalls bekannte AkteurInnen des Aktionismus, führt die „Legitimation“ der Pädosexualität über Prominenz herbei und stellt eine Komplizenschaft her, die noch immer aufzugehen scheint. Zusätzlich werden die realen Missbrauchsopfer Mühls, die im Film auch Opfer sexueller Übergriffe spielen müssen, erneut traumatisiert — ein Zynismus, der in der Rezeption dieses Filmes noch nicht benannt wurde.
Diese Ebene freizulegen hat sich die Gruppe MATHILDA zur Aufgabe gemacht. Dabei geht es nicht um eine Antwort auf die Frage, wie man Otto Mühls Werke ausstellen kann, sondern um eine Neubefragung des filmischen Materials, das aus der Perspektive derer, die als Zeitzeug:innen auch Wissensträger:innen sind, nicht nur in der Fiktion verbleiben kann, sondern immer schon einen Dokumentarfilmcharakter hat (Missbrauchsopfer müssen Missbrauchsopfer spielen, die Täter spielen mit; dokumentarischer kann eine Besetzung wohl nicht ausfallen).
Zentrale kuratorische (von lat. cura, Sorge) Fragestellungen sind dabei: Wo zeigt sich Otto Mühls totalitäre, übergriffige und pädosexuelle Geste im Film? Wie kann man das Material zeigen, ohne es zu reproduzieren und wie schützt man die Kinderdarsteller:innen und Missbrauchsopfer, die in diesem Film mitspielen? Wie also etwas zeigen ohne erneut verletzte und verletzliche Menschen zu exponieren?
Der Blur-Effekt, der ausgewählten Szenen des Filmes von MATHILDA beigefügt wurde, unterstreicht, dass wir es hier mit einerseits fiktivem wie auch dokumentarischem Material zu tun haben. Zum einen können also die Szenen, die mit Blur-Effekt versehen sind, von den Betrachter:innen wie dokumentarisches Material betrachtet werden. Zum anderen hat dieser Effekt auch zur Folge, dass sich die Aufmerksamkeit der Betrachter:innen auf die Blickregime der erwachsenen DarstellerInnen richtet. Den Blicklinien der Erwachsenen folgen zu können, macht sichtbar, wohin sie schauen und wer von ihren Blicken verschlungen wird. Es sind Kinder.
Der Film Back to Fucking Cambridge.
Installation im Volkskunde Museum Wien im Rahmen des Symposiums Kunstrezeption – Strategien für zukünftiges Ausstellen, Juni 2021.
MATHILDA schlägt anhand von Mühls Back to Fucking Cambridge (1987) eine radikale Neubesichtigung seines Werkes vor. Während der Film bisher als Satire auf die Kulturszene der Jahrhundertwende galt, wird er nun als dokumentarisches Material gegengelesen und verliert dadurch seinen künstlerisch-fiktionalen Charakter; für sie ist der Film manifeste Dokumentation: Die Überlebenden sexualisierter Gewalt spielen die Rollen von Missbrauchsopfern einer künstlerischen Avantgarde.
Konzept — Ida Clay, Zarah Gutsch
Video Schnitt — Wolfgang Konrad
Text — Elisabeth Schäfer
Szenenbeschreibung — Jakob Pretterhofer
Produktion — Paul Robert
Dass der Film von
der Legitimation
von Pädosexualität
handelt, ist das
offene Geheimnis.
Back to Fucking Cambridge ist 1987 unter der Regie von Terese Schulmeister und nach dem Drehbuch von Otto Mühl in der Kommune am Friedrichshof entstanden. Damit ist der Film ca. ein Jahr nach dem Bildzyklus „Unfälle im Haushalt“ (Otto Mühl) produziert worden. Aus diesem Aktzyklus zeigte beispielsweise das Wiener Leopold Museum 2010 im Rahmen der Ausstellung „Otto Mühl“ nur ein einziges Bild, da die restlichen Bilder Missbrauchsopfer Mühls zeigen.[↗ 1] Diejenigen also, die ein Jahr nachdem sie im Rahmen dieser Serie unter erdenklich zynischen Umständen portraitiert wurden, bekommen auch im Film Back to Fucking Cambridge Rollen: erneut als Missbrauchsopfer.
Unter den Filmen, die in der Kommune am Friedrichshof entstanden sind, ist Back to Fucking Cambridge derjenige, der — den genannten historischen Umständen zum Trotz — die wohl größte Popularität erzielte. Die Premiere fand 1987 in der Wiener secession statt. Auch im Fernsehen wurde Back to Fucking Cambridge ausgestrahlt: Erstmals durch den Sender FSZ am 31.03.1989 sowie am 13.12.1993 im ORF 2 und weitere zwei Male innerhalb des Sendeformates ORF-Kunststücke (1989 und 1993). Auch heute noch ist Back to Fucking Cambridge in Retrospektiven, im musealen Kontext usw. häufig zu sehen und wird sehr oft als Komödie bzw. Satire behandelt, siehe beispielsweise das Screening des Filmes im Roten Salon der Berliner Volksbühne 2016.[↗ 2]
Die Rezeption sieht in Back to Fucking Cambridge zumeist einen bitterbösen Blick auf die Kunst- und Kultur-Szene der Wiener Jahrhundertwende, ihre Mythen und legendären Ikonen am Werk. Die Auseinandersetzung mit dem Film durch die Gruppe MATHILDA möchte diese Lesart befragen. Die Besetzung der Ikonen des 19. Jahrhunderts — wie beispielsweise Kubin, Schiele, Freud, Weininger, Wittgenstein, Schönberg und andere — durch „KünstlerInnen“ aus dem Umfeld der Kommune und des Wiener Aktionismus, lässt die Frage entstehen, wie der Film mit der Ikonenhaftigkeit von ProtagonistInnen der Kunst- und Kulturwelt umgeht und warum diese angerufen und unterstrichen wird. So werden im Film „KünstlerInnen“ und „Intellektuelle“ der Jahrhundertwende von „KünstlerInnen“ und „Intellektuellen“ besetzt: Otto Mühl als Sigmund Freud, Nam June Paik als Anton von Webern, Maria Lassnig als Anna O. oder Georg Jiri Dokoupil als Egon Schiele, um nur einige zu nennen.
Die ersten Einstellungen des Filmes zeigen eine dem Kaiser zujubelnde Menge in sommerlicher Landschaft. Danach drängen sich tableau-ähnliche Szenen schriller Exzesse aneinander. Besonders die Tonspur zeugt von schreienden (Kinder-) Stimmen. Das Handlungsgerüst des Filmes vermittelt den Eindruck, Schlaglichter in Lebens- und Schaffensphasen der gezeigten Figuren werfen zu können — geradezu panoptisch, als verfüge die Kamera und diejenigen, die sie führen, über panoptische, alles einsehende Perspektiven. Hier wird das zentrale Moment der Kommune aufgegriffen, in der ebenfalls jede Handlung öffentlich einsehbar war und Intimität, Schutz der Privatsphäre zerstört wurden. Darüber hinaus erinnert die panoptische Blicktechnik als „Entlarvungsmethode“ der von Otto Mühl als vermeintlich „therapeutisch“ entwickelten Aktionsanalyse (die keine Therapie war, genauso wenig wie Otto Mühl ein Therapeut war). Die Intensität der Gestaltung dieser panoptischen, alles erblickenden Kamera macht den Film zu einer Folge distanzloser Übergriffe auf Triebgeschehen und Affekte, um „alles“ zu zeigen und zugleich auch etwas Zentrales unter der Oberflächenerzählung einer grotesk anmutenden Komödie unterzubringen: Dass der Film von der Legitimation von Pädosexualität handelt, ist das offene Geheimnis, das wie in Edgar Allan Poes berühmt gewordener Erzählung „Der entwendete Brief“[3 Vgl. Edgar Allan Poe: Der entwendete Brief, in ders.: Die schönsten Erzählungen, Berlin: Aufbau Verlag 2008, S. 170-198.] dort am besten untergebracht wird, wo es niemand sucht, nämlich in der Sichtbarkeit.
Otto Mühl macht sich zum „Facteur einer Wahrheit“[4], die er gar nicht zu verschleiern braucht, weil sie in der Sichtbarkeit Legitimation bekommt. Die Besetzung bekannter Figuren aus Kunst- und Kultur der Jahrhundertwende durch ebenfalls bekannte AkteurInnen des Aktionismus, führt die „Legitimation“ der Pädosexualität über Prominenz herbei und stellt eine Komplizenschaft her, die noch immer aufzugehen scheint. Zusätzlich werden die realen Missbrauchsopfer Mühls, die im Film auch Opfer sexueller Übergriffe spielen müssen, erneut traumatisiert — ein Zynismus, der in der Rezeption dieses Filmes noch nicht benannt wurde.
Diese Ebene freizulegen hat sich die Gruppe MATHILDA zur Aufgabe gemacht. Dabei geht es nicht um eine Antwort auf die Frage, wie man Otto Mühls Werke ausstellen kann, sondern um eine Neubefragung des filmischen Materials, das aus der Perspektive derer, die als Zeitzeug:innen auch Wissensträger:innen sind, nicht nur in der Fiktion verbleiben kann, sondern immer schon einen Dokumentarfilmcharakter hat (Missbrauchsopfer müssen Missbrauchsopfer spielen, die Täter spielen mit; dokumentarischer kann eine Besetzung wohl nicht ausfallen).
Zentrale kuratorische (von lat. cura, Sorge) Fragestellungen sind dabei: Wo zeigt sich Otto Mühls totalitäre, übergriffige und pädosexuelle Geste im Film? Wie kann man das Material zeigen, ohne es zu reproduzieren und wie schützt man die Kinderdarsteller:innen und Missbrauchsopfer, die in diesem Film mitspielen? Wie also etwas zeigen ohne erneut verletzte und verletzliche Menschen zu exponieren?
Der Blur-Effekt, der ausgewählten Szenen des Filmes von MATHILDA beigefügt wurde, unterstreicht, dass wir es hier mit einerseits fiktivem wie auch dokumentarischem Material zu tun haben. Zum einen können also die Szenen, die mit Blur-Effekt versehen sind, von den Betrachter:innen wie dokumentarisches Material betrachtet werden. Zum anderen hat dieser Effekt auch zur Folge, dass sich die Aufmerksamkeit der Betrachter:innen auf die Blickregime der erwachsenen DarstellerInnen richtet. Den Blicklinien der Erwachsenen folgen zu können, macht sichtbar, wohin sie schauen und wer von ihren Blicken verschlungen wird. Es sind Kinder.
[4] Ich verwende hier in Bezug auf Mühl eine Wendung, die einer wichtigen philosophischen Debatte des sogenannten Poststrukturalismus zwischen dem frz. Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem frz. Philosophen Jacques Derrida, von letzterem geprägt wurde. Die Deutung des literarischen Textes von Poe (siehe FN 3) spielt dabei eine zentrale Rolle. Derridas Kritik an Lacans Lesart der Erzählung „Der entwendete Brief“ gipfelt in der Feststellung, dass es eine gefährliche Geste einer spezifischen psychoanalytischen Perspektive sei, sich stets selbst überall zu suchen und folglich auch zu finden. Damit beschneidet sie sich der Möglichkeit, etwas nicht deuten zu können und verfehlt die inhärente Möglichkeit des Verfehlens. Derrida unterstreicht damit die disseminierende, sich aus- und zerstreuende Kraft von Wahrheit, die immer auch im historischen Wandel steht. Wer die Wahrheit glaubt, eindeutig her/stellen zu können, macht sich automatisch zum „Facteur“ der Wahrheit und muss in dieser Rolle auch behaupten, tatsächlich der „Herr“ deren Produktion zu sein. Hier schwingt eine totalitäre, autoritäre Geste mit. Insbesondere letzteres – zusammen mit dem Motiv der Poe’schen Erzählung, in der ein dringlich gesuchter Brief ebenfalls in der Sichtbarkeit, auf einem Kaminsims, äußerst gelungen „versteckt“ werden kann – legt die Parallele zu Mühl an dieser Stelle. Vgl.: Derrida, Jacques: „Der Facteur der Wahrheit“ [1975], in: ders.: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. Berlin: Brinkmann & Bose 1987, S. 183-281.